Die Rosinenpicker
Eine pseudoornithologische Betrachtung
Essay von Hans Peter Flückiger
Die Rosinenpicker (Uvapassarostrumae, von lateinisch uva passa für getrocknete Weinbeere und rostrum für Schnabel, Schnauze, Rüssel) sind eine Spezies, welche mit dem Wendehals (Jynginae) verwandt ist. Seit längerer Zeit ist eine Debatte im Gange, ob die Rosinenpicker vom Aussterben bedroht sind und auf die rote Liste der bedrohten Arten aufgenommen gehören, welche von der Weltnaturschutzunion (IUCN) herausgegebenen wird. Die Gegner einer Aufnahme argumentieren, dass diese aus der Zeit gefallenen Wesen gegen jede zeitgemässe Entwicklung resistent sind. Was mutmasslich mit der den Namen begründenden Ernährungsweise in Zusammenhang steht. In der Folge gibt es Stimmen, welche postulieren, dass das Aussterben des Rosinenpickers dem Wohlergehend der Menschheit dienlich wäre. Ein Standpunkt, welcher aus rechtsstaatlichen Überlegungen bisher keine Mehrheiten zu finden vermochte. Es gehe nicht an, einerseits die Ansiedlung von gefährlichen Wildtieren wie Luchs, Wolf und gar Bär zu fördern, und anderseits das Aussterben einer anscheinend «missliebigen Art» in Kauf zu nehmen oder gar zu fördern.
Die Rosinenpicker leben in relativ kleiner Zahl in einem räumlich begrenzten, teilweise sehr sumpfigen Habitat. Auf einem Gebiet von gut 40.000 Quadratkilometern im alpinen Herzen Europas. Je 100 Kilometer östlich und westlich des siebten Längengrades und nördlich und südlich des 47. Breitengrades.
Augenfällig ist die starke Zuwanderung in das Habitat des Rosinenpickers. Im Durchschnitt kommt auf drei Rosinenpicker ein Zuwanderer. Sogenannte Neobioten (von altgriechisch νέος [néos] für neu und βίοτος [bíotos] für Leben = neues Leben.) Darunter versteht man Individuen, die sich in einem Gebiet ansiedeln, in dem sie eigentlich nicht heimisch sind.
25 Prozent ist eine vergleichsweise hohe Quote. Wenn die Rosinenpicker im Allgemeinen als «gmögig» (schweizerdeutsch für sympathisch, angenehm) charakterisiert werden und als gastfreundlich gelten, erstaunt dies doch. Die Rosinenpicker legen nämlich Wert darauf, die Angelegenheiten ihres Habitats eigenständig zu regeln. Das bedeutet für die Nicht-Rosinenpicker, dass sie willkommen sind, die Ärmel hochzukrempeln, um den Wohlstand zu mehren, ohne aber politisch mitreden zu können und Verantwortung übernehmen zu dürfen. Plausible Erklärungen für dieses Verhalten zu finden, ist schwierig. Eine geht dahin, dass man – meist vorübergehend – bereit zu sein scheint, diese Ungleichbehandlung in Kauf zu nehmen, um sich an den Fleischtöpfen des Rosinenpickers laben zu können. Unbestritten ist nämlich, dass diese reichlicher gefüllt sind als andernorts.
Dazu gibt es noch eine weitere, kleine Gruppe, welche sich gerne in den Gefilden der Rosinenpicker niederlässt. Oligarchen. Für diese, und andere reich Begüterte, wurden in bestimmten Regionen des Habitats, beispielsweise an den nördlichen Gestaden des Genfersees, eigens Biotope errichtet, in welchen sie sich mit ihresgleichen pauschalbesteuert – auf Grund einer Schätzung und nicht auf Basis des Einkommens und Vermögens – tummeln können.
Wenig ist über den Ursprung der Rosinenpicker bekannt. Erstmalig wird deren Auftreten gegen Ende des 13. Jahrhunderts beschrieben. Oder zumindest das ihrer Altvorderen. Auf einer Wiese oberhalb des Vierwaldstättersees sollen sich drei aus unterschiedlichen Reservaten zusammengetan haben. Deren Nachkommen entwickelten sich dann nach und nach zu den Rosinenpickern. Von der ersten Generation an handelte es sich um eine rabiate Spezies. Während den ersten Jahrhunderten ihres Daseins sind unzählige, auch blutrünstige Auseinandersetzungen mit Unerwünschten dokumentiert.
Bis heute änderte sich im Grundsatz am Verhalten der Rosinenpicker wenig. Ausser in der Wahl ihrer Mittel. Diese sind heute äusserst subtil, um die eigenen Pfründe zu erhalten. Dazu gehört auch das Gespür, lukrative Geschäfte zu machen, sprichwörtlich gesagt, Rosinen zu picken. Dabei tut man sich schwer, darauf zu verzichten, wenn dieses im Rufe steht, übergeordneten Interessen zu widerlaufen. Wird dieses Verhalten kritisiert, steht sofort die Frage im Raum: Laufen diese Bestrebungen den unseren zuwider? Und wenn ja, sind diese für uns relevant? Um diese Klippen zu umschiffen, hat man sich die Strategie des Vertagens angeeignet. Dazu hat man ein bewährtes Möbel gezimmert. Die lange Bank. Auf diese wird alles geschoben, bis es vergessen ging, sich von selbst erledigt oder an Relevanz verloren hat. Parallel gibt man sich verschnupft und verbittet sich, als egoistischer Sonderling diskreditiert zu werden. Man sehe absolut keine Notwendigkeit, um jeden Preis der ganzen Welt gefallen zu müssen. Schliesslich wisse diese auch so, was sie an ihnen habe. Die Liste der diesbezüglichen Tatbeweise sei lang, wird angeführt. Man biete jedem, der wolle, seine guten Dienste an und zeige sich bei Notlagen mehr als grosszügig und spendabel. Sich dem Zeitgeist zu unterwerfen, komme aber nicht in Frage. Viel im Augenblick als «normal» und «üblich» Geltendes, habe sich später als Irrtum entpuppt. Etwa, dass die Erde keine Scheibe ist. Oder später, dass sie auch als Kugel nicht im Zentrum des Universums steht. Ebenso war während Jahrhunderten der ausbeuterische Kolonialismus eine politische Selbstverständlichkeit. Ein Verhalten, durch das die Rosinenpicker sich in keiner Weise versündigt hätten. Und wie viel Elend haben Mächtige über Abermillionen von Menschen gebracht, welche skrupellos als Sklaven missbraucht wurden? Wer wisse, welche heute geltenden Politdogmen sich über kurz oder lang als Fehlannahmen und Fehlinterpretationen entpuppten? Deshalb ist es klar. Solche Modetrends sind kein Anlass, sich von Bewährtem abzuwenden. Schliesslich ist jeder sich selbst der Nächste. Schaut jeder für sich, ist für alle geschaut.
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© Hans Peter Flückiger